Doran Szecko


Ein Gefängnisseelsorger wird zu einem jungen Sexualstraftäter beordert und hört sich dessen Lebensbeichte an. Die Geschichte eines Lebens, das schlecht anfing und noch schlechter endet. Doran Szecko lässt seinen jugendlichen Helden reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Das Ergebnis: eine bitterböse Abrechnung mit der schönen deutschen Alltagswirklichkeit.

 

Die verlorene Krone

Doran Szecko

 

Leseproben:

(1) ERSTE SITZUNG
Was ich danach gemacht hab'? Na, was wohl? Ich hab' gesehn, daß ich wegkomm', und zwar so schnell wie möglich. Ich wußte nicht, wo ich hingehen sollte, ich wollte nur weg. Also bin ich einfach losgerannt, und dann hab' ich mich in diesem verdammten Wald verlaufen. Das war ja stockduster, mitten inner Nacht, und dann kam noch Nebel dazu. Schöner Mist war das, 'ne ganze Zeit bin ich da rumgeirrt, und hab' im Dunkeln getappt. Da konnt' man echt unruhig werden. Aber das war ich soundso schon. Und das wurde nicht besser, der Wald wurde nämlich immer dichter und undurchdringlicher, ein verdammtes Gestrüpp war das. Aber ich konnte ja nicht umkehren, das wollte ich auf überhaupt keinen Fall, da hatte ich voll den Schiß vor, überall hin, nur nicht dahin zurück. Irgendwie 'n komisches, so mulmiges Gefühl hatte ich ja sowieso, war irgendwie überall total unruhig und nervös, voll den Tatter hatte ich, Mann. Aber war ja wohl irgendwie auch kein Wunder nach dem, was ich angestellt hatte, nä? Dann ging das in diesem Scheißgestrüpp - also, das war jetzt kein richtiger Wald mehr, der war da erst mal zu Ende -, dann ging das da auch noch steil bergab. Die Straße dahinter heißt ja auch Achtern Barg, da, wo auch der Bauernhof von den Feddersens steht. Aber das wußte ich da ja noch nicht. Erstens war ich in dem Wald noch nie gewesen und zweitens, bei der Dunkelheit und dem Nebel... Na, jedenfalls war da so'n Abhang, und den bin ich runter, voll durch das Gestrüpp und die Scheiß-Brombeersträucher mit den ganzen verdammten Dornen. Da hab' ich mir die ganzen Beine aufgekratzt, das ging voll durch die Hose durch. Und dann bin ich auch noch weggerutscht und voll auf die Fresse geflogen und voll rein in die Dornen, da unten war so'ne Kuhle. Hab' mir das ganze Gesicht zerkratzt. Und die Hände. Sieht man ja heute noch, oder? Hier unterm Auge. Mann, da hatte ich aber die Schnauze voll, gestrichen voll. Gestoßen hatte ich mich auch noch. Ich bin irgendwie mit'm Arm auf'm Stein aufgekommen. Tja, und da lag ich dann mitten in dem meterhohen Gestrüpp und konnte zusehen, wie ich da wieder rauskam. Nur am Fluchen war ich. Voll in der Scheiße saß ich, in jeder Beziehung. Das war mir schon klar, nä? Und mir war auch klar, daß ich sehen mußte, daß ich da wegkam, wenn ich mich nicht erwischen lassen wollte. Aber ich weiß auch nicht, was da mit mir los war. Ich hatte von der ganzen Scheiße so die Schauze voll, daß mir auf einmal alles scheißegal war, und ich bin da einfach liegen geblieben. Hatte keine Lust mehr aufzustehen. Das piekte und das stach alles und war total unbequem, aber ich bin da liegen geblieben. Hatte doch sowieso alles keinen Sinn mehr, sollten die mich doch kriegen, war so oder so alles Scheiße. Ob ich in'n Knast geh' und da die Jahre absitz' oder mich draußen durchs Leben quäl', ist doch Jacke wie Hose. Ich will Ihnen was sagen, Meister, das Leben in Freiheit kann auch wie'n Knast sein. Im Knast redest du immer nur davon, draußen zu sein, in Freiheit, als wär's das Paradies, aber das gibt kein Paradies, und wenn du denn draußen bist, denn guck' man zu, wie du klarkommst, da kannst du dir den Schädel einrennen. Erst mal Arbeit finden. Aber wer stellt schon 'n Knasti ein! Wer will überhaupt was mit'm Knasti zu tun ham? Und überall sind solche Wände, die du nicht einrennen kannst, und da stehst du dann. Klar, Knast ist Scheiße, aber draußen ist das auch kein Paradies. Das denkt man immer nur, wenn man drin sitzt. Man will sowieso immer genau das haben, was man gerade nicht kriegen kann, und wenn man's dann hat, dann stinkt's einem schon wieder. Und dann auf'm Dorf! Da kann man sich doch nie mehr sehen lassen. Hohenaue, das hat vielleicht tausend Einwohner. Da kennt dich jedes Schwein. Und wenn einer mal im Knast landet, ist das 'n halbes Jahr Klatschgespräch Nummer eins. Wie ich dann die Nacht verbracht hab'? Ach so, naja, erst mal bin ich da also liegen geblieben, in dieser Kuhle mit den ganzen Dornen, weil ich die Faxen dicke hatte, außerdem war ich auch ganz schön geschafft von dem ganzen Streß. Ich mußte erst mal verpusten. Aber in dem elenden Gestrüpp ging das natürlich auf die Dauer nicht, das piekste und juckte überall. Ich bin denn also aufgestanden und hab' mich weiter durch diesen Dschungel gekämpft, echt, 'n richtiger Dschungel war das. Kaum hatte ich mich nämlich aus den Dornen und dem ganzen Gestrüpp befreit, da kamen wieder ganz dichte Tannen und so was, und die pieksen ja auch nicht schlecht. Und nirgends 'n Weg. Aber das dauerte zum Glück nicht mehr lange, denn kam ich auf 'ne Koppel, die führte auch abwärts - das ging ja die ganze Zeit immer abwärts -, bloß auf der Koppel waren Kühe drauf, die hab' ich erst gar nicht gesehn wegen der Dunkelheit, und vielleicht waren das auch Bullen, richtige Bullen, mein' ich, da hab' ich gesehen, daß ich wegkomm'. Außerdem, wenn die da angefangen hätten, laut rumzumuhen und Terror zu machen, dann hätten die wahrscheinlich alles wachgemacht. Unten am Ende der Koppel kam nämlich gleich schon die Straße, Achtern Barg, und 'n paar Meter weiter gegenüber auch schon die Bauernhöfe, erst der von Kröger und dann Feddersen. Die konnte ich von der Koppel aus schon sehen, da brannten noch 'n paar Lichter, obwohl das schon weit nach Mitternacht war. Da wußte ich denn ja auch wieder, wo ich war, die Straße kannte ich ja, da sind wir früher öfter mit'm Rad längs gefahren, zur Klosterau. Das ist so'n kleiner Fluß inner Feldmark, und da ham wir damals immer gebadet und gespielt oder irgendwas angestellt. Ist aber schon lange her, noch inner Grundschule. - Ich mußte dann erst mal wieder verschnaufen, und ich wollte ja auch nicht weiter, hab' ich ja schon erzählt. Aber ich wollte natürlich auch nicht den Bullen in die Arme laufen, den andern Bullen, mein' ich. Die hatten Feddersens ja vielleicht schon alarmiert. Immerhin sollte sie ja um elf schon zu Hause sein. Ich hab' mich denn hinter 'ne Scheune gehockt, da stehn welche direkt gegenüber von den Bauernhöfen auf der andern Straßenseite, also auf meiner Seite, nä? Da stehn so Trecker, Mähdrescher und all so'n landwirtschaftlicher Kram drin rum. Naja, und da hab' ich mich denn hingehaun, zwischen der Hinterseite vonner Scheune und dem Knick. Rein wollte ich da lieber nicht, obwohl das da drin bestimmt gemütlicher war. Ich hatte Angst, ich penn' ein und am nächsten Morgen findet mich der Vater von Tina. Das hätte noch gefehlt. Eigentlich war das ja sowieso schon 'n Ding, daß ich mir ausgerechnet an Feddersens Scheune die Nacht um die Ohren schlag'. Aber die Position war natürlich nicht schlecht. Ich konnte da alles mitkriegen, und wenn ich schnell abhauen mußte, dann konnte ich gleich durch den Knick und wieder in Richtung Wald verschwinden, vorausgesetzt, da war nicht schon die Polizei. Denn mein Auto, das würden die ja auf jeden Fall finden! Ein scheiß-mulmiges Gefühl hatte ich. Aber irgendwie hatte das auch was Spannendes, was... Prickelndes, wie wenn man gerade 'ne Menge beim Glücksspiel riskiert hat... Und abenteuerlich war das irgendwie auch, manchmal kam ich mir vor wie so'n Gangster auf der Flucht vor der Polizei, wie in so'm Film, aber nicht, wo man für die Polizei ist, sondern irgendwie mehr für den Gangster, und man will gar nicht, daß die den kriegen. Die Sache hatte bloß einen Haken: Das war schweinekalt! Ich hab' gefroren wie 'n Schneider. Ham Sie mal 'ne Nacht bei Nebel draußen verbracht? Da nützt die dickste Jacke nichts. Feuchtkalt war das, der Boden auch ganz naß, vom Tau oder vom Nebel, ich hatte nachher 'n ganz nassen Arsch. An Pennen war nicht zu denken. Ich war irgendwie auch immer noch ziemlich aufgewühlt, einerseits müde, andererseits mußte ich die ganze Zeit an Tina denken und was das alles für 'ne Scheiße war, die ich da angestellt hatte. Ich hatte das die ganze Zeit vor Augen, das konnte man nicht einfach abstellen wie 'n Fernseher. Wahrscheinlich hätte ich nicht mal pennen können, wenn ich 'n warmes Bett gehabt hätte. Aber irgendwie bin ich denn trotzdem irgendwann eingedöst, so halb wach, halb am Pennen. Als ich wieder aufgewacht bin, war das zwar immer noch ziemlich düster und neblig, aber ich hab' gemerkt, daß da irgendwas los war, da war so'n Lichtflackern inner Luft, so'n bläulicher Flimmer, und da konnte ich mir ja schon denken, daß das nur Blaulicht sein konnte. Scheiße, dachte ich bloß und kriegte so'n komisches Panikgefühl, als wenn jetzt alles aus wär'. Einerseits wollte ich ja, daß sie mich kriegen, weil das sowieso alles kein' Sinn hatte, aber irgendwie auch nicht, da kam ich mir wieder vor wie der Gangster aus'm Film... Vor allem wollte ich nicht, daß die mich so leicht kriegen. Stellen wollte ich mich auf keinen Fall. Ich wollte lieber irgendwas Heldenhaftes, im Schußwechsel mit der Polizei draufgegangen oder so, bloß dafür fehlte mir die Knarre, ja, oder daß sie mich kriegen, weil sich das so ergibt, obwohl ich versuch', nicht erwischt zu werden, so 'ne Art Schicksalsentscheidung. Gegen sein Schicksal kann man eben nichts machen. Wenn das so gekommen wär', wär' ich bestimmt nicht abgehaun. Aber wenn ich noch 'ne Chance hatte abzuhaun, wollte ich die auch nutzen. Wenn das Schicksal nämlich wollte, daß die mich nicht kriegen, wär' ich ja schön blöd gewesen, mich einfach kriegen zu lassen. Als erstes mußte ich aber mal wissen, was eigentlich los war. Also hab' ich mich aufgemacht, hab' erst mal anner Scheunenecke geguckt und mich dann an die Straße geschlichen. Da stand tatsächlich 'n Polizeiauto mit Blaulicht. War ja klar. Aber trotzdem hat mir das noch mal voll den Schreck eingejagt, hab' voll das Herzflattern gekriegt. Wegen mir waren die ja da! Aber irgendwie lieb' ich ja die Herausforderung, irgendwie brauch' ich das Risiko! Wie beim Glücksspiel, wie gesagt, nä? Und ich wollt' natürlich wissen, was da jetzt abging, ob die schon was gefunden hatten und so. Und jetzt kommt der Clou, Pokerface in Aktion! Ich bin ganz normal die Straße entlanggegangen, so, als ob gar nichts los wär' und ich von nichts 'ne Ahnung hätte. Cool, nä? Die Bullen standen direkt an der Gartenpforte vor Feddersens Haustür. Der alte Feddersen und seine Frau, die kannte ich so vom Sehen, die standen da im Licht von dem Polizeiwagen - 'n neuer BMW, nicht schlecht, wa'? -, also, die standen da und waren mit den beiden Bullen am Rumdiskutieren. Die Eltern von Tina sahen ganz schön fertig aus, waren bestimmt ganz schön beunruhigt, weil sie noch nicht zu Hause war. Das war ja auch gar nicht ihre Art. Wie ich die so sah, da kriegte ich plötzlich richtig Mitleid mit ihnen. Ich wußte ja, was los war und daß ihnen das Schlimmste erst noch bevorstand. Scheißgefühl. Als ich denn so ungefähr auf gleicher Höhe war wie das Polizeiauto, ja, da hat Tinas Vater mich gesehen und ist auf einmal ganz aufgeregt auf mich los. "Wer bist du denn? Was machst du denn hier?" hat der mich angeschrien, dabei kennt der mich gar nicht. Frau Feddersen und die Bullen denn gleich hinterher, und sie hat von hinten gerufen: "Das ist der Junge von König!" und zu dem Alten gesagt, er soll man ruhig bleiben und sich nicht so aufregen, das hilft ja nichts und so. Der Alte war echt ganz schön in Fahrt, ich dachte erst, die wissen schon alles und ich bin geliefert. Aber dann hat einer von den Bullen dieselben Fragen noch mal höflicher gestellt. Und ich hab' einfach die Wahrheit gesagt: daß ich vom Sportlerball komm' und Albert König heiß'. Da wurden die natürlich alle gleich hellhörig und meinten, daß Bettina ja auch auf'm Sportlerball gewesen wär', und ham mir erzählt, daß sie jetzt verschwunden wär', sie hätten da nämlich angerufen; und ob ich sie denn nicht gesehen hätte. Ich hab' denn ganz normal erzählt, daß auf'm Sportlerball ja immer die ganze Dorfjugend zusammenkommt, die meisten sind ja auch im Sportverein. Was soll man in so'm toten Kaff wie Hohenaue sonst auch schon groß machen? Irgendwann, hab' ich dann noch erzählt, irgendwann im Lauf des Abends hätte ich sie bestimmt mal gesehn, auf der Tanzfläche oder so, aber in dem großen Saal und bei dem ganzen Getümmel achtet man ja nicht so genau auf alle Leute. Davon stimmte natürlich nicht mal die Hälfte. In Wirklichkeit hab' ich Tina an dem Abend kaum aus den Augen gelassen. Ob mir denn noch irgendwas Besonderes aufgefallen ist, wollte dann noch einer wissen, ich glaub', einer von den Bullen, und noch mit'm ganzen Haufen anderer Fragen ham die mich bombardiert. Aber ich hab' immer nur geantwortet, daß ich das nicht so genau wüßte, und hab' denn nur noch erzählt - aber das wissen Sie ja schon, Meister -, wie ich sie mit irgendso'm Typen mit Lederjacke hab' weggehn sehn, so gegen elf. Das beste war ja, daß das auch noch alles stimmte, bloß daß ich der Typ war, mit dem Tina weggegangen ist. Aber darauf wären die natürlich nie gekommen. Wer kommt schon auf die Idee, daß der Täter so cool ist und sich den Bullen selbst unter die Nase reibt! Brenzlig wurde das dann aber, als ich denen erklären mußte, was ich mich um die Uhrzeit da draußen inner Walachei rumtrieb. Die Feddersens wohnen ja schließlich so zwei, drei Kilometer außerhalb von Hohenaue. Da mußte ich mir auf die Schnelle die Geschichte aus 'n Fingern saugen, daß ich mich nachts um zwei besoffen auf'm Nachhauseweg verirrt hätte und irgendwo im Gebüsch eingepennt wär'. Gesoffen hatte ich ja auch wirklich nicht schlecht. Trotzdem müssen die Bullen schon ganz schön blöd gewesen sein, daß sie mir den Schwachsinn abgekauft ham. Ich kam mir ja selber wie'n Schwein vor dabei, wie'n mieses Schwein, weil ich Tinas Eltern zu allem Überfluß auch noch anlügen mußte. Die taten mir ja eigentlich ziemlich leid mit ihrer Besorgnis. Und die Bullen ham ihnen noch gut zugeredet! Wird schon nichts passiert sein, meistens ist so was ganz harmlos und klärt sich im Lauf des Tages auf. Wahrscheinlich dachten die, Tina hätte sich von irgendeinem Typen abschleppen lassen und bei ihm die Nacht verbracht. Sogar darüber wären ihre Alten schon aus allen Wolken gefallen, aber von wegen "ganz harmlos"... Mann, da hatte ich echt 'n mieses Gefühl. Die Alten ham bloß genickt und sich gegenseitig Mut gemacht und wollten sich denn ganz normal an die Arbeit machen. Das wurde ja schon bald hell, und auf'm Bauernhof, da muß man früh ran. Die Bullen ham sich verabschiedet und versprochen, sie würden sofort Bescheid sagen, wenn sich was Neues ergibt. Scheiße, dachte ich nur. Aber ich konnte den Alten ja wohl schlecht hinterherrufen, sie bräuchten sich keine Sorgen mehr machen, alles roger, ich wüßte, wo ihre Tochter ist. (...)

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(2) TINA
Mit Drogen? Da hatt' ich nie viel mit am Hut. Ich hasse Spritzen. Aber Hasch hab' ich mal probiert. Da war so'n Typ bei Roger, der hatte immer so nette Briefchen mit und hat damit rumgedealt. Aber mit dem Stoff ist das so'ne Sache: Entweder das bringt nichts, oder das bringt dich um. Wenn du richtig was erleben willst, mußt du ran an die harten Sachen, Speed oder Schnee. Mit Hasch kommst du da nicht weit. Bei Roger ham immer 'n paar mit Hasch rumgekifft; ich hab' mal geschnieft, rauchen tu' ich ja nicht, aber, wie gesagt, viel bringt das nicht. Du merkst kaum was. Außerdem ist das eklig. Ob du kiffst, schniefst oder spritzt, eklig ist das immer. Und gefährlich, 'n paar von denen, die gekokst ham, sind nachher voll in die Drogenszene reingeraten. Ich kenn' einen, der ist heute Stricher in Hamburg. Da hätt' ich nu' echt kein' Bock drauf. Tina bei Roger? Nee, nee, das war nicht ihr Milieu, da hat die sich nicht ein Mal blicken lassen. Das war ja das Besondere an ihr: Die war nicht eine von diesen Barhuren, die sich aufreißen und wegschmeißen lassen wie 'ne Coladose, die wußte, was sie wollte. Deswegen war ich ja auch so scharf auf sie. Ich weiß nicht, vielleicht hab' ich auch gedacht, mit der kann noch was aus mir werden. Ich mein', wenn man 'ne Freundin wie Tina hat, dann braucht man nicht mit solchen Typen wie bei Roger rumhängen. Dann hätt' ich den ganzen Schlappsäcken aber mal einen vorgeträllert: "O-o-o-o-o-oh, the king has back his crown!" oder so, hähä! Naja, das sind halt so Träumereien. Hätt' mir ja denken können, daß die sich zu schade für mich ist. Wann ich Tina zum erstenmal gesehn hab'? Gesehn hab' ich sie sicher schon ganz früh irgendwann mal. Auf'm Dorf läuft dir ja irgendwann jeder mal übern Weg. Beim Kaufmann, inner Schule, im Bus oder so. Aber ich weiß schon, was Sie meinen. Sie meinen, wann ich sie zum erstenmal gesehn hab' und scharf auf sie geworden bin, nä? Das kann ich noch ziemlich genau sagen. Das war ungefähr 'n halbes Jahr vorher, irgendwann im Frühling, ich glaub', im Mai. Das war jedenfalls schon ziemlich warm. Und da hab' ich sie im Bus gesehn, nachmittags nach der Schule. Sie ging aufe Realschule, und ich hatte jeden Donnerstag Berufsschule. Die Schulen sind nicht weit von'nander entfernt. Nach der Haltestelle, wo die ganzen Realschüler einsteigen, kommen als letztes wir dran, also die Berufsschüler, das ist die letzte Station inner Stadt, und dann fährt der Bus über die Dörfer zurück. Für uns gibt's dann meistens nur noch Stehplätze. Immer nur Stehplätze, und das bei der Hitze im Sommer. Scheißsystem. Immer dieser dämliche Bus, der für die 18 Kilometer aus Neumünster bis nach Hohenaue fast 'ne Stunde braucht oder noch länger, aber half nichts. Für'n Führerschein hatte ich noch nicht genug Kohle zusammen, für 'ne vernünftige Kiste noch weniger - Mokick hatte ich auch wieder verkauft, wegen Kohle -, sonst hätte mir die Scheißgondelei mit'm Bus längst gestohlen bleiben können. Naja, jedenfalls stand ich an dem Donnerstag im Mai zufällig direkt neben ihrem Platz, also, sie hatte 'n Sitzplatz, und ich nicht. Sie unterhielt sich die ganze Zeit mit irgendso'm Schwachkopf aus ihrer Klasse, der neben ihr saß, am Fenster. Der ist aber nachher ausgestiegen. (...)

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(3) LIEBE
Klar, im Film, da ist das immer ganz romantisch. Wie bei Pretty Woman. Zu schön, um wahr zu sein: 'n Millionär heiratet 'ne N*** - und morgen kommt das Christkind! Wer soll denn so was glauben? Das ist nämlich bloß 'n Trick von den Leuten da in Hollywood, um Kohle zu machen. Die wissen genau, was die Leute sehn wollen, nämlich das, was sie gerne haben würden, aber nie kriegen werden, weil's das gar nicht gibt, 'n schönes Märchen, wo die Hauptpersonen nachher glücklich sind bis ans Ende ihrer Tage, und wenn sie nicht gestorben sind... und so weiter. Aber ich hab' auch mal 'n Film gesehen, da sind zwei total verknallt, der Typ total reich, Sohn von so'm Fürsten oder so, und die Tussi 'ne einfache Bauerstochter, aber das ist denen egal, die sind total verknallt - große Liebe! -, würden am liebsten einer in'n andern reinkriechen und wollen sich natürlich nie mehr trennen, weil sie glauben, sie sind für'nander bestimmt und so weiter. Und dann schwören sie sich feierlich, daß sie lieber sterben wollen, als dem andern jemals untreu zu werden, und wollen denn natürlich so schnell wie möglich heiraten und glücklich sein. Bloß, ist ja klar, die Eltern spielen nicht mit. Das war ja früher immer so'n Problem mit den Standesunterschieden und so. Naja, und der Vadder von dem Sohn, dieser Fürst, der hat 'ne Menge Einfluß, und der sorgt denn dafür, daß die sich nicht mehr sehn können, und außerdem hat er eine für ihn ausgesucht, die ist eben auch reich und so'ne Adelstochter, und die Adelstochter sieht auch nicht übel aus, und was passiert? Der Sohn verknallt sich in die und heiratet sie und findet das gar nicht mal übel, und alle sind zufrieden - bis auf die Bauerstochter, die erste. Die guckt sich die Hochzeit heimlich mit an, rennt zu dem Fürstensohn hin und will von ihm wissen, ob er sie noch liebt und so. Der sagt keinen Ton, tut so, als würde er sie gar nicht kennen, und dann wird sie einfach rausgeschmissen und springt von der nächsten Brücke. Das war mal ein Film, der war realistisch. Mein Reden: Nach Liebe fragt man nicht, Liebe macht man einfach. Warum so kompliziert? Wenn Sie mich fragen, redet man sich das mit der Liebe bloß ein, weil man scharf auf ne Braut ist, weil sie geil aussieht. Was anderes interessiert einen doch gar nicht. Und dann meint man, das wär die große Erfüllung, das wär die richtige, ganz bestimmt. Aber das dauert nur so lange, bis dir eine übern Weg läuft, die noch richtiger ist, und dann schießt du die alte zum Mond. Deswegen gehn auch die ganzen Ehen in die Brüche. Kennen Sie den Spruch: "Von glücklich bleibt in den meisten Ehen nur das -ich übrig." Genialer Spruch! Ist doch so, nach n paar Jahren ist bei den meisten Ehepaaren der Lack ab. Wenn ne Frau alt und häßlich ist - und alte Weiber sind nun mal häßlich, da können Sie mir erzählen, was sie wollen, das ist einfach so. Bei uns inner Straße, da lebte auch so ne alte Mumie, die war schon über achtzig. Zu der ham alle immer nur "Zickzackoma" gesagt, wegen den vielen Falten. Aber da konnte die mit leben, weil die sich nichts vorgemacht hat. Sie war nun mal ne alte Scharteke, was soll man da machen? Man muß der Wahrheit ins Gesicht sehn, auch wenn da Falten drin sind, alles andere bringt einen nicht weiter. Oder meinen Sie, das hätte der Zickzackoma was genützt, wenn ihr jeder auf der Straße erzählt hätte, daß man ihr ihre achtzig Jahre überhaupt nicht ansieht, sie würde höchstens wie 79 aussehn? Und deswegen ist in den meisten Ehen nachher auch die Luft raus. Wenn die Frau alt und abgewrackt ist, ist doch klar, daß der Alte dann kein Bock mehr auf sie hat und sich lieber nach Frischfleisch umguckt. Ich find das sogar ehrlicher, als so zu tun, als ob sich nichts geändert hätte, da lügt man sich doch selbst inne Tasche. Das Problem ist bloß, daß man als Opa mit Falten aufm Arsch natürlich auch nicht mehr so der Aufreißertyp ist. Da kann man sich als alter Lustmolch ganz schön blamieren, und das ist wahrscheinlich ein Glück für die Omas. Ihre Alte macht sie zwar nicht mehr an, aber sone Ehe hat ja auch Vorteile, die setzt man nicht so einfach aufs Spiel. Und das sind dann die Ehepaare, die sich nicht scheiden lassen. Man braucht sich nur mal meine Alten angucken. Mein Alter kam vonner Arbeit nach Hause, hat sein Abendbrot und sein Bier gekriegt, und wenn das nicht geschmeckt hat, dann hat er noch rumgemotzt. Vielleicht hat ihm das auch gar nicht schlecht geschmeckt, sondern er wollte nur irgendwo seine Wut auslassen. Aber dann hätten Sie meinen Alten mal sehn sollen, wenn der alleine zu Hause war und sich selbst was machen mußte. Hab ich ja schon erzählt: Der hat nicht mal ne Scheibe Brot heil abgeschnitten gekriegt. Nach einer Woche wär der glatt verhungert. Aber so ist das doch, erst die große Knutscherei, und nachher darf die Alte noch ab und zu mal im Bett die Beine breit machen, und ansonsten muß sie springen und sich noch anlabern lassen, weil ihr Mann schlecht drauf ist. Aber egal, dafür muß der Mann sich n Leben lang das doofe Geschnatter von seiner Alten anhören. Oder ham sie schon mal erlebt, daß Frauen was Interessantes zu erzählen ham? Oder gar nichts, das wär ja noch sensationeller. Ich mein, was interessieren mich Strickmuster, Kochrezepte und Babywindeln? Oder das Getratsche ausm Treppenhaus? Jeder interessiert sich doch sowieso nur für seinen eigenen Scheiß, was bringt das, darüber mit einem zu reden, der sich für was ganz anderes interessiert? Das macht doch keinen froher. Was bringt das, wenn die Frau über das neue pißnelkengelbe Kleid von Karl Lagerfeld reden will, und der Mann klebt vor der Mattscheibe, weil Schumi gerade Boxenstop hat? (…)

 

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